Dolomitendurchquerung: 

Mit Tourenski von St. Kassian nach Sexten  (16.-20.2.2020)

Ich packe meinen Rucksack und nehme mit….

„Ich weiß schon, was in meinen Rucksack gehört“, wird mir jeder versierte Tourengeher sagen. Auch mein Rucksack ist schnell für die fünf Tage gepackt. Aber zwischen Sicherheitsausrüstung, warmer Kleidung und ein paar Trockenfrüchten findet sich auch noch Platz für was Anderes, das glücklicherweise kein Gewicht hat: Vorfreude, Erwartung und Neugierde.

In St. Kassian begleitet das Gebimmel von vier Pferdestärken, die Skifahrer an einem langen Seil zum nächsten Lift ziehen, unseren Start. „Ich trage keine Ski, solange es noch ein bisschen Schnee hat“, verkündet Hubert, unser Guide. Und so laufen wir anfangs im Zick-Zack durch den Wald Richtung Capanna Alpina. Nach einer kurzen Stärkung folgen wir dem Wanderschild „Faneshütte 2,40 h“ und unser Blick wandert an einer Felswand entlang. Wie und wo ist diese wohl zu überwinden? Ein Holzzaun zwischen Fels und Schnee lässt eine steile Route erahnen und tatsächlich zwingt uns diese, die Ski ein Stück auf dem Rücken zu tragen. Am Col de Locia öffnet sich uns ein breites, sanft geschwungenes Hochtal, eingerahmt vom Piz de Lavarella zur Linken und vom Monte Vallon Bianco zur Rechten. Schritt für Schritt tauchen wir tiefer ein in den Nationalpark Fanes Sennes. Das Gelände lässt Erinnerungen an Norwegen aufkommen. Es ist ruhig und still. Vorfreude, Erwartung und Neugierde entschlüpfen mehr und mehr meinem Rucksack und ich beginne, den Alltag hinter mir zu lassen und mich auf das Geschenk von fünf Tagen Dolomitendurchquerung zu freuen, wie ein Kind auf Weihnachten. Begleitet von den letzten Sonnenstrahlen stehen wir am Limojoch und bewundern das Licht - und Schattenspiel an den Gipfeln um uns herum, bis wir in ein paar Kurven zur Faneshütte abfahren. Bei geselligem Treiben in der Hütte, gutem Essen und einem Glas Rotwein lassen wir den Tag ausklingen und wir nehmen den Tipp des Hüttenwirtes, am nächsten Tag über das Fanestal abzufahren, mit in unser Lager.

Der Tag zwei begrüßt uns erneut mit Sonnenschein und die ersten Schwünge Richtung Fanestal ziehen sich gut.  Zu diesem Zeitpunkt ahnen wir noch nicht, dass die Stürme in den Dolomiten ähnlich wüteten wie bei uns daheim und dass der Weg sich mehr und mehr verengen wird, bis nur noch etwa ein Meter übrig bleibt. So rutschen wir einen Großteil der Abfahrt seitwärts ab oder bremsen im Schusspflug, bis die Oberschenkelmuskeln zur kurzen Pause zwingen. Dazwischen übersteigen und umfahren wir umgestürzte Bäume oder schlüpfen unter Ästen hindurch. Manchmal ist vor lauter Grün und Braun  der Tannennadeln und der Äste gar kein Schnee mehr auf der Piste zu sehen. Es geht rauf und runter, hin und her und der Wald und das Fanestal scheinen kein Ende nehmen zu wollen. Wir brauchen die doppelte Zeit als eingeplant und als wir endlich eine Langlaufloipe erreichen, kann ich mir nicht verkneifen zu sagen „So ein Dreck!“ Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Meine Ski sind übersät mit Lärchennadeln und meinen Belag schau ich besser nicht an. Zum Trost winkt eine baldige Einkehr im Rifugio Ra Stua. So stapfen wir ohne viele Worte einen Forstweg bergan und freuen uns, dass mit jedem Höhenmeter die Aussicht auf Schnee und auf das ersehnte Weiß größer wird. Leider hat die Stuahütte nur am Wochenende geöffnet, aber die Sonnenterrasse lädt trotzdem zu einer Rast ein. Hubert macht sich am Reißverschluss eines Zeltes zu schaffen, das ihm, Brigitte und mir mit seinem windgeschützten Inneren zu einem ruhigen Mittagschläfchen verhilft. Die anderen drei dösen – angelehnt an die sonnenbeschienene Hauswand - vor sich hin, bis zum Abmarsch zur Senneshütte geblasen wird. Immerhin haben wir noch ein paar Kilometer und fast fünfhundert Höhenmeter Aufstieg vor uns. Helga gibt das Tempo vor und geht dem Talschluss als Erste entgegen. Trotz des Anstieges ist der Weg moderat und die Hochfläche des Val Salata zaubert die umliegenden Gipfel vor unsere Augen. Die Sonne spiegelt sich auf den Schneeflächen, feine Schleierwolken umspielen die Kanten und Zacken und heften sich in der Ferne an einen Gipfel, so dass er den Anschein eines Vulkanes hat. Ab hier geht das Schieben und Gehen leichter, haben doch unsere Sinne genug Nahrung und das Panorama schafft Ablenkung vom Feinsten. Während ich die letzten Meter zurücklege, bin ich mir sicher, dass ich mir diese östlichste Ecke von Südtirol auf jeden Fall mal wieder ansehen will. Etwas müde, durstig und hungrig begrüßt uns die Senneshütte, die auf all unsere Bedürfnisse die richtigen Antworten hat.

Am nächsten Morgen haben wir mal wieder …? Natürlich: SONNE! Die Nacht hat ein paar Schneeflocken gezaubert – hauchdünn schmiegen sie sich auf den Altschnee. Es weht ein kühler Wind um unsere Nasen und wir brechen Richtung Seekofelhütte auf. Die Schneeflanke des Seekofels in Form einer Haifischflosse zieht uns magisch an, leitet uns durch malerisches Gelände, durch kurzweiliges Auf-und Ab, vorbei an riesigen Windkolken und eingewehten Felsbrocken. Immer wieder bleiben wir stehen, um uns an der Erhabenheit und der einmaligen Schönheit dieser Berge zu laben. Was haben wir für ein Glück, das erleben zu dürfen! Das sind die Momente, die wir suchen und über die wir auf der Faneshütte philosophiert haben. Eine Sonnenbank an der Seekofelhütte lässt uns verweilen und Hubert gibt sein Wissen über Gipfelnamen zum Besten. Auch die kommenden Tagesetappen lassen sich von hier ausmachen, linsen doch die drei Zinnen schon zu uns herüber. Wir steigen noch zur Ofenscharte hoch und begutachten den Großen Jaufen, unser nächstes Ziel. Ein schattiger Nord-Osthang lässt uns entgegen jeglicher Erwartung in den Genuss von ein paar feinen Schwüngen kommen, bevor wir wieder anfellen und - um Höhenmeter zu sparen - den Hang unterhalb der Ofenbänke queren. Diese sind auch so ein Wunderwerk der Natur: in vielen feinen Reihen übereinander sitzende quaderförmige Felsblöcke, akribisch und künstlerisch angeordnet, wie der Mensch es kaum schaffen könnte. Der Große Jaufen lädt uns mit Blick auf den Pragser Wildsee und einem 360° Panorama zum Verweilen und wieder einmal zum Staunen ein. Wir blicken östlich in die Dolomiti di Sesto, bewundern südöstlich die Gruppo del Cristallo und blicken zurück auf die Kreuzkofelgruppe. Eigentlich ist es ganz egal, wie rum ich stehe und in welche Richtung ich blicke – satt bin ich noch lange nicht. Einheimische Tourengeher geben uns den Tipp, es abwärts sausen zu lassen, dann müssten wir bis zur Rossalm nicht schieben. Gesagt – getan – es läuft prima und im Nu stehen wir auf der Terrasse der urigen Hütte. Schnell ist ein windgeschütztes Sonnenplätzchen ergattert, Gerstensuppe und Kaffee und Kuchen bestellt. Irgendjemand hat aus Spaß oder Langeweile – oder aus beidem – einen Tunnel um die Südseite der Hütte gegraben. Ja, von dem großen Schnee im November lässt sich hier lange zehren. Und das Plumsklo unterhalb der Hütte gibt uns die Gewissheit, dass wir mitten in den Bergen sind, wo Komfort nicht an erster Stelle steht. Bei der Abfahrt Richtung Gasthof Brückele sind wir froh, dass die Lawinensituation so unbedenklich ist, denn das Gelände ist steil und der Weg eher eine Rutschpartie; mit Skifahren hat das Runterkommen ins Tal wenig gemeinsam. Außer die letzte Strecke Richtung Bushaltestelle – da lassen wir es nochmals auf der Loipe sausen, denn wer will schon schieben und wie heißt es so schön: „wer bremst – verliert!“. Gerade mal zehn Minuten müssen wir nur warten, bis wir per Bus zur Plätzwiese, unserem nächsten Etappenziel, fahren können. Wir genießen bei einem Cappuccino noch die letzten Sonnenstrahlen, bevor die Hohe Gaisl mit ihren vielen Rottönen und dem Guckloch im Fels sie verschluckt und wir in den warmen Gasthof umziehen. Die letzten Gäste ziehen talwärts und nur wir sechs bleiben oben am Berg – was für ein Privileg.

Gestärkt und erholt ziehen wir am nächsten Morgen weiter zur Dürrensteinhütte. Heute ist die Sonne noch nicht am Start – am späteren Vormittag soll sie laut Wetterbericht ausgeschlafen haben. Wir sind noch etwas wortkarg unterwegs und lassen die mystische Stimmung auf uns wirken. Die Dürrensteinhütte hat heute leider Ruhetag und so lagern wir unser Übernachtungsgepäck unterhalb der Hütte, bevor wir den Helltaler Schlechten in Angriff nehmen. Mit zunehmender Höhe wird die Sonne unsere Begleiterin und wir ziehen an unserem eigentlichen Ziel vorbei bis hinauf zur Großen Pyramide, mit 2711m der höchste Punkt unserer gesamten Tour. Jetzt sind wir froh an allem, was wir an warmer Kleidung dabei haben. Der Blick schweift zurück zu Ofenscharte und Großem Jaufen und schwenkt um nach vorne zu den drei Zinnen. Dieser kurze Moment ist wie das gesamte Leben – man schaut zurück, wo man herkommt, was man erlebt hat, worüber man sich gefreut hat, was anstrengend und erfüllend war; und die Orte sind verknüpft mit Erinnerungen und Emotionen. Und man blickt nach vorne, auf das, was man noch erleben möchte, was noch kommt, was noch auf uns zu warten scheint, wofür uns hoffentlich noch Zeit bleibt. Und plötzlich sind sie wieder da, meine stillen Rucksack-Mitreisenden: die Vorfreude, die Erwartung und die Neugier.

Die Abfahrt zurück zur Dürrensteinhütte ist besser als erwartet, weiter unten genießen wir sogar noch ein paar Schwünge im Firn. Es zieht uns noch nicht ins Tal, wir wollen oben und Teil dieser grandiosen Bergwelt sein. So verweilen wir auf der Sonnenterrasse der Hütte und verschlafen die heranziehenden dunklen Wolken, die uns, begleitet von einem frischen Westwind, zu einem schnellen Aufbruch drängen. Auf einem kilometerlangen Forstweg geht es zügig bergab, die spitzen Kehren lassen sich wie Steilkurven fahren und wir müssen kein einziges Mal schieben – wie angenehm. So haben wir auch keine Lust, ein Stück entlang der Fahrstraße unsere Ski zu tragen, sondern entscheiden uns mal wieder für`s „Ugrechete“, wie man allgäuerisch so malerisch sagt. Und so kommt es, dass wir ein Stück auf einem eisblauen, zugefrorenen, sich durchs Gelände schlängelnden Bach fahren, mal unter herabhängenden Bäumen hindurch, mal durch auf dem Eis stehenden Wasser. „Na, hoffentlich trägt das Eis!“ denke ich und mache mich so leicht wie möglich. Wer bisher noch kein Abenteuer hatte, der hat es jetzt. Erleichtert, aber auch ein bisschen traurig, dass der Spaß ein Ende hat, wechseln wir auf eine Langlaufloipe und fahren, schieben und skaten je nach Geländeneigung und Kraft vorbei an Schluderbach bis zum Hotel „Drei Zinnen“, das direkt am Eingang zum Rienztal liegt. Mit Verhandlungsgeschick und Geduld hoffen wir auf eine Übernachtungsmöglichkeit dort, denn der Kellner gibt in gebrochenem Deutsch zu verstehen, dass das Hotel von einer Filmcrew ausgebucht sei. Wir werden jedoch von der Gastfreundlichkeit des Hotelchefs nicht enttäuscht und per Kleinbus in das Hotel Bauer am Toblacher See chauffiert. Dort genießen wir eine Unterkunft direkt unterm Dach, eine Sauna, ein altes aber stilvolles Ambiente und klassische Musik zum Abendessen.

Etwas früher als die anderen Tage sitzen wir am Frühstückstisch und schaufeln Kalorien in uns hinein. Heute wartet die letzte und anstrengendste Etappe bis zur Dreizinnenhütte auf uns. Im Rienztal schläft noch die Kälte der Nacht und es dauert etwas, bis die Finger warm sind. Die Schwarze Rienz ist unsere ständige Begleiterin, meist zugefroren, nur manchmal hören wir ein Rauschen unterm Eis. Die Felsbrocken am Weg haben große Hüte auf, die an Baiser erinnern und an denen die Schneemengen vom November gut abzulesen sind. Die seitlichen Schneewände entlang des Bachufers sind geriffelt, als hätten zauberhafte Wesen Rillen zur Verzierung eingezogen, schön gleichmäßig und kunstvoll. Wir sind ganz allein auf der schmalen Spur unterwegs, immer wieder müssen wir sehr achtsam sein, wenn der Weg eng und hoch über dem Bachbett entlang zieht. Der Talschluss kommt immer näher und irgendwann stehen wir vor der Frage, wie es weitergeht. Hubert versucht, einen möglichen Aufstieg auszuspähen, aber die Felswände sprechen ein klares NEIN aus. So kommt die Order, die Harscheisen zu montieren und seiner gut gewählten Zick-Zack-Spur am Steilhang zu folgen. Die Spitzkehren bedürfen dann schon einer gewissen Akrobatik und jeder Schritt muss mit der Kante gesetzt werden. Meter für Meter und hochkonzentriert schrauben wir uns nach oben. Für das letzte Stück wählen manche ein schmales Kar entlang der Felswand, andere schultern die Ski und schlagen mit den Skischuhen Tritte in den Schnee in entgegengesetzter Richtung. Erleichtert treffen sich alle auf einem kleinen Plateau wieder, gönnen sich eine Verschnaufpause und spülen mit Tee das Adrenalin hinunter. Noch eine knappe Stunde brauchen wir in welligem Gelände, bei glitzerndem Schnee und den drei Zinnen zum Greifen nahe bis zur gleichnamigen Hütte. Nun ist ein trockenes Shirt und Resteessen angesagt. Beeindruckt und ehrfürchtig sitzen wir an die Hauswand gelehnt,  den Blick staunend auf die drei Zinnen und den Lavaredograt gerichtet. Was haben wir doch für ein Glück, einen solchen Augenblick und einen solchen Ausblick genießen zu dürfen. Das sind Momente für unsere inneren Schatzkästchen; das ist genau das, was uns immer wieder antreibt, loszuziehen. Gefüllt und zufrieden verlassen wir diesen besonderen Ort und fahren auf einer platt gefahrenen Skiroute das Fischleintal hinaus bis zur Talschlusshütte. Dort wechseln wir auf die Skatingbahn, die uns in angenehmer Schussfahrt weiter talauswärts führt. Die Einbahnschilder übersehen wir ignoranter Weise - auch trotz einiger böser Blicke - zu gut laufen unsere Ski. In Moos hat uns die Zivilisation wieder, leicht erkennbar an Seilbahnen und Skiliften und an den vielen Menschen, die wie wir auf den Skibus warten. Der nimmt uns mit nach Sexten und weiter nach Innichen. Dort erwischen wir den Zug nach St. Lorenzen. Jeder hängt unterwegs seinen Gedanken nach, lässt Revue passieren, was wir zusammen erlebt haben und jeder braucht etwas Zeit, wieder in der Alltagswelt anzukommen. In St. Lorenzen trennen wir uns: Hubert nimmt den Bus zurück nach St. Kassian, um den DAV-Bus zu holen und wir stapfen müde und hungrig zur Dorfmitte, wo glücklicherweise ein Cafe und eine Pizzeria auf uns warten. So endet unsere Dolomitendurchquerung: das Erleben ist zu Ende, aber die Erinnerungen bleiben; und letztendlich gewinnt auch der bei dem Spiel „Ich packe meinen Rucksack“, der sich am meisten merken kann, was alles eingepackt wurde. Und ich bin mir sicher, dass ich für meine nächste Tour wieder dasselbe einpacken werde, nämlich die Vorfreude, die Erwartung und die Neugier.

Dir, lieber Hubert, ein herzliches Danke, dass Du das alles möglich gemacht hast, für dein Planen und Organisieren und für Deine Bereitschaft, eine bunt gemischte Gruppe zu führen.

Euch, liebe Helga und Brigitte, lieber Hubert, Hubert und Tommy, ein herzliches Danke, dass Ihr mit dabei ward und wir so angenehme, vergnügliche, interessante und zufriedene Stunden miteinander verbracht haben.

Vielleicht seid ihr ja wiedermal dabei, wenn es heißt: „Ich packe meinen Rucksack und nehme mit…!“